Wohnungsnot
Strategie des Kantons Zug wirkt zu zögerlich
In Zug fand die erste Inklusive Landsgemeinde statt. Menschen mit Behinderungen tauschten sich mit Vertreterinnen und Vertretern der Politik über ihre Anliegen und Probleme im Alltag aus.
In der Schweiz leben rund 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen. Ihre Integration im Alltagsleben passiert auch in der Schweiz nach wie vor nicht ohne Konflikte. Menschen mit Behinderungen erleben zahlreiche Diskriminierungen, sei es beim Wohnen, bei der Arbeit oder im öffentlichen Verkehr.
Am Donnerstag, 5. September, wurde in Bern mit 108'000 Unterschriften die Inklusionsinitiative bei der Bundeskanzlei eingereicht. Sie fordert von Bund und Kantonen verbindliche Massnahmen zur rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, freie Wahl des Wohnortes und der Wohnform. Passend zur Eingabe der nationalen Initiative fand am Montag, 9. September, im Regierungsgebäude in Zug unter dem titel «TeilHabe und TeilGabe» die erste Inklusive Landsgemeinde statt. Menschen mit Behinderung diskutierten mit Mitgliedern des Regierungs- und Kantonsrats. Drei Themen wurden angemeldet:
• Arbeit: Chancen und Herausforderungen im ersten Arbeitsmarkt.
• Politische Teilnahme und Engagement.
• Bezahlbarer, barrierefreier Wohnraum im Kanton Zug.
«Während den Aktionstagen Behindertenrechte haben wir Teilnehmende mittels Flyern, im persönlichen Gespräch und über die Webseite zukunft-inklusion.ch/zg gesucht. Fast alle Interessierten, die sich gemeldet haben, nehmen nun an der inklusiven Landsgemeinde teil. Die Selbstvertretenden begegnen in ihrem Alltag sehr unterschiedlichen Behinderungen», erklärt Heidi Giger, Beauftragte für Behindertenrechte beim kantonalen Sozialamt Zug. Kantonsratspräsident Karl Nussbaumer hat von der politischen Seite die Fraktionen angefragt, damit Mitglieder an der Inklusiven Landsgemeinde mitwirken. Vom Regierungsrat waren Frau Landammann Silvia Thalmann-Gut, Volkswirtschaftsdirektion, und Andreas Hostettler, Direktion des Innern, aktiv involviert. Ausserdem Fraktionssprecherinnen von Die Mitte, SVP, FDP, ALG, SP und GLP.
Zu jedem der drei Themen ergriffen Teilnehmende mit unterschiedlichen Behinderungen das Wort und erklärten ihre Situation in der Arbeitswelt oder bei der Wohnungssuche. Menschen im Rollstuhl, Seh- und Hörbehinderte, Menschen mit Depressionen, Multipler Sklerose oder Mitarbeitende der Stiftung Zuwebe.
«Ich habe es sehr geschätzt, dass alle zu Wort gekommen sind. Und ich finde es gut, dass endlich eine Inklusive Landsgemeinde stattfinden kann», erklärt Silvio Zgraggen aus Zug. Er ist seit Geburt hörbehindert, auch seine Frau leidet an einer Hörbehinderung. Sie sei beruflich sehr qualifiziert. «Trotzdem erhält sie nur Absagen bei Stellenbewerbungen für eine kaufmännische Stelle, egal ob KMU oder bei der Stadt Zug.»
Es gebe immer noch viele Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung, aber auch viele Unsicherheiten bei Arbeitgebern, sagt Silvio Zgraggen. «Es benötigt Aufklärungsarbeit, dass wir genau so gute Mitarbeitende sind. Und vom Staat her braucht es Anreize für Arbeitgeber, Menschen mit Behinderungen einzustellen, zum Beispiel in Form von Steuererleichterungen oder Lohnzuschüssen.»
Silvio Zgraggen ist nicht einer, der nur die Faust im Sack macht. Er ist einer politischen Partei beigetreten, damit er mithelfen kann, die Inklusion von Menschen mit Behinderung voranzutreiben. «Ich hoffe, dass auch andere, die heute hier gesprochen haben, selber den Mut haben oder andere ermutigen, Arbeitgebenden, Vermietern oder Behörden ein Mail zu schreiben oder anzurufen und auf Probleme hinzuweisen. Wir dürfen nicht einfach auf Wohlwollen hoffen, sondern müssen Berührungsängste abbauen und selbst reagieren.»
Andreas Hostettler sieht viele Vorteile darin, direkt mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen: «Menschen mit Behinderungen wissen besser als wir, welche Barrieren auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft im Weg stehen. Das erfahre ich immer wieder, wenn ich Gelegenheit habe, mich mit Selbstbetroffenen auszutauschen. Darum weniger über Menschen mit Behinderungen, sondern viel mehr MIT ihnen.»
Der Regierungsrat glaubt, dass der Kanton Zug im Bezug auf die Inklusion auf gutem Weg ist: «Wichtige Meilensteine sind mit dem neuen Gesetz über Leistungen für Menschen mit Behinderung und Betreuungsbedarf LBBG gemacht worden. Sei es durch personenzentrierte Leistungen, ambulante Angebote, die Förderung der Gleichstellung und eine neue Finanzierung.» Aber es gebe natürlich auch im Kanton Zug noch viel zu tun. «In einem zentralen Punkt sind wir gerade an einer wichtigen Verbesserung: Mit der Revision des Wahl- und Abstimmungsgesetztes (WAG) wird eine gesetzliche Grundlage für barrierefreie Unterlagen geschaffen» erklärt Andreas Hostettler.
Zur Integration von Menschen mit Behinderung in den primären Arbeitsmarkt, meint er, dass der Kanton als Arbeitgeber seit vielen Jahren Inklusions-Arbeitsplätze anbiete. «Es gibt auch Firmen – ganz Grosse wie auch ganz Kleine –, die sich engagieren. Allerdings müssen wir auch hier schauen, dass noch mehr Möglichkeiten und Potenziale genutzt werden.» Der Kanton müsse aufzuklären und unterstützen.
«Wir fördern preisgünstigen Wohnraum und richten, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind, Mietzinszuschüsse aus», erklärt Andreas Hostettler weiter. Bauträgern stehe die Baudirektion bei der Realisierung von preisgünstigem Wohnraum beratend zur Seite. Genügend guter und bezahlbarer Wohnraum sei aber generell eine Herausforderung.
Auch die unterschiedlichen Behinderungen bei Menschen bedeute für die Behörden eine besondere Challenge, alle Anfragen und Anliegen unter einen Hut zu bringen. «Das ist ein bisschen die Quadratur des Kreises. Genau deshalb ziehen wir zur Unterstützung immer Menschen mit den verschiedenen Behinderungsarten bei.» Viele Anliegen – und Lösungen – betreffen und helfen nicht nur Menschen mit Behinderung. Davon profitieren zudem auch ältere Menschen, Eltern mit Kindern, Personen mit einfacher Bildung oder Fremdsprachige.
Ob es weitere Inklusive Landsgemeinden geben werde, weiss Andreas Hostettler noch nicht. «Zuerst werden wir diesen Anlass auswerten. In dieser inklusiven Form, in der Menschen mit Behinderungen und vertretende aus dem Kantonsparlament miteinander in einer Session im Gespräch sind, ist der Kanton Zug der erste in der Schweiz. Wir hoffen, dass es bald Nachahmer gibt.»
Dass die erste Inklusive Landsgemeinde im Regierungsgebäude ausgetragen wurde, war eigentlich logisch, aber nicht ohne Fragezeichen. «Der Kantonsratssaal ist von der Bedeutung her der richtige Ort. Aber aufgrund der fehlenden Barrierefreiheit nicht ideal. Zum Beispiel ist die enge Bestuhlung für Rollstuhlfahrende ungeeignet und die Signalisation beim Zugang und der Treppe fehlt für Menschen mit Sehbehinderung», gibt Heidi Giger zu bedenken.
Aus diesem Grund mussten die Organisierenden zusätzliche Massnahmen, treffen, damit der Anlass ordnungsgemäss durchgeführt werden konnte. «Wir haben eine Gebärdensprachdolmetschung organisiert. Die Mikrofonanlage hat eine Hörschlaufe, diese konnten wir jedoch nicht an die für die Veranstaltung vorgesehenen Tischmikrofonen anschliessen, weshalb wir auf Stabmikrofone ausweichen.» Heidi Giger sieht das durchaus positiv: «Jede Veranstaltung ist auch ein Lernprozess der aufzeigt, wo Verbesserungspotential besteht.»
Renato Cecchet
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